"Sommergäste" - Deutsches Theater Berlin

Foto: Arno Declair, Bildquelle: http://www.deutschestheater.de



"Du bist so brutal!"

Uff! Ein riesiges Ensemble-Stück von einem russischen Autor. Das klingt nach Unterhaltung, nach Drama und gleichzeitig Belanglosigkeit. Also genau das richtige für mich.
Ich kaufte eine Karte und schaute nicht drauf. Und dann las ich irgendwo etwas von 4 Stunden. Und ich dachte: Ach du scheiße, was habe ich getan?!

Aber man muss sich Herausforderungen stellen. Ich habe schon mal 6 Stunden Theater geschafft, da sollten auch 4 Stunden und 15 Minuten zu schaffen sein.

Machen wir es kurz: es waren die besten 4 Stunden und 15 Minuten, die ich seit langem auf der Theaterbühne gesehen habe.
Wegen des Bühnenbildes? Nein. Wegen der Musik? Nein. Wegen der Kostüme? Nein.
Wegen des Schauspiels!
Die 15 Schauspieler ziehen einen die ganze Zeit in ihren Bann, mit einer Intensität und Spiellust, die ihresgleichen sucht. Die Charaktere entfalten mit jeder Minute eine größere Komplexität und mit jedem Satz wechseln meine Sympathien zwischen den Figuren.

Wie eine Soap breitet sich dieses Theaterstück aus, wie die ganze Staffel einer geliebten Netflix-Serie. Wir Zuschauer lernen die Figuren intensiv kennen. So intensiv, dass unsere Zuneigung zu bestimmten Figuren wächst, dass wir die Augen verdrehen, wenn sie dumme Entscheidungen treffen, und dass gleichzeitig andere Figuren immer unbeliebter werden. Wir nehmen einige in Gedanken in Schutz und verurteilen die anderen.
Und merken irgendwann, dass jede dieser Figuren im Eimer ist. Unzufrieden, unglücklich und gefangen in der eigenen Handlungsunfähigkeit.
Die beiden jungen Menschen Sonja und Semin strahlen eine Leichtigkeit aus, die erfrischt und fast ein bißchen Hoffnung gibt ... aber nur fast.

Während ich in diesem langen Stück in der dritten Reihe sitze, entsteht eine unglaubliche Spiellust. Der Wunsch ebenso tief in Emotionen abzutauchen. Der Wunsch, mit diesem Ensemble zu leiden.

Die Schönheit und Frische des Stückbeginns ist am Ende aus den Gesichtern verschwunden. Das Ensemble sieht abgekämpft aus, verweint, verquollen und müde. Und genau dafür liebt man sie. Weil sie all das für einen erlitten und einem diese wunderbaren Stunden geschenkt haben. Danke!


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